Der Nationalcharakter der Schweizer besteht nicht in den ältesten Ahnen, noch in der Lage des Landes noch sonst in irgend etwas Materiellem; sondern er besteht in ihrer Liebe zur Freiheit [...]

Das Manifest von 1841

Die Deutschen glauben uns dadurch hauptsächlich zum Schweigen zu bringen daß sie behaupten, das schweizerische Volk gehöre seiner Abstammung nach gar nicht zusammen, sondern die deutsche Schweiz gehöre eigentlich zu Deutschland, die französische zu Frankreich u. s. f. kurz jeder Theil unsres Landes gehöre zu dem seiner Abstammung entsprechenden Theil der angränzenden Staaten und das ist vorsätzliche Nichtbeachtung unseres Nationalcharakter’s. Denn, zugegeben daß wir den nähmlichen Völkerstämmen entsprossen sind, wie unsere Nachbaren, so thut das durchaus nichts zur Sache. Der Geist der Generationen verändert sich unendlich u wenn wir jener Ansicht u der Bibel folgen müßten, so wäre die ganze Menschheit nur eine Nation u müßte folglich nur einen einzigen Staat ausmachen. Die jetzige Bevölkerung Englands ist entstanden aus Britaniern, Römern, Angelsachsen, Normannen, Celten u. s. f. die alle einander wechselweise besiegt, verdrängt od unterdrükt haben u doch ist die englische Nation jetzt eine Ganze, Untheilbare, originell in ihrem Charakter u weder mit den jetzigen Franzosen, noch Deutschen, noch irgendeinem Volke ähnlich. So ists auch mit den Schweizern gegangen. Die Urkantone waren von jeher frei in ihren Bergen, man weiß von keinem Herren, der sie gesetzlich jemahls regiert hätte. Albrecht suchte sie mit Gewalt zu zwingen, | und von da an schufen sie sich ihr eigenes Geschick, u an dieses knüpfte sich nach u nach, bis auf unsere Zeiten, die ganze gegenwärtige Schweiz theils aus innerem Drange u Neigung, theils aus äußerlichem Bedürfniß an; u durch die Verfassungen, die sie sich selbst gaben, sind sie eben so verschieden worden von denen mit denen sie gemeinschaftliche Abstammung hatten.

Der zitierte Text stammt von einem angehenden Zürcher Landschaftsmaler, der sich 1840/41 zu Studienzwecken in München aufhält, sich einer Schweizer Studentenverbindung angeschlossen hat und sich mit dieser wöchentlich einmal im Wirtshaus "Wagnerbräu" zum Kneipen trifft, wobei jeweils auch ein eigens erstelltes Wochenblatt verlesen wird. Gottfried Keller – von ihm ist natürlich die Rede – war Redakteur und wohl auch Hauptbeiträger und Hauptvorleser dieses Wochenblattes. Das Blatt existierte bestenfalls in einem (handschriftlichen!) Exemplar. Überliefert sind nur jene Beiträge, die Keller verfaßt und in eines seiner frühen Studienbücher eingetragen hat. Unser Text ist dort – glücklicherweise inklusive Datierung – zu finden unter dem Titel: Vermischte Gedanken über die Schweiz. / für das Wochenblatt der Schweizergesellschaft März 1841.[1]

Die Nation als Ausdruck von politischer Selbstbestimmung und Willensbildung – nicht als völkisch definiertes Machtgebilde. Kellers politische Reflexionen sind die Reaktion auf einen anonymen Artikel Deutschland und die Schweiz. Dieser war erschienen in Deutschlands renommierter Allgemeinen Zeitung und hatte eben die Annexion der deutschstämmigen Schweiz durch Deutschland anempfohlen. Ich weiß nicht, ob Keller seine Stellungnahme im Schweizerverein wirklich vorgetragen und wie dieser darauf reagiert hat. Der Inhalt war vielleicht nicht durchwegs neu, aber sicher treffend. Darüber hinaus handelt es sich um eines der ersten Zeugnisse für den Beginn von Kellers Sprachmächtigkeit. Für Keller-Exegeten wird v. a. bedeutsam sein, daß die frühe sprachliche Ausdruckskraft des Autors sich an politischen Themen entfaltet und sich auch in der Form eines politischen Manifestes, einer von Überzeugungsrhetorik geprägten öffentlichen Erklärung niedergeschlagen hat.

Der unmittelbar anschließende Satz bringt – in einer für Keller allerdings seltenen Kürze – den Höhepunkt. Auch Sie könnten ihm durchaus schon begegnet sein:

Der Nationalcharakter der Schweizer besteht nicht in den ältesten Ahnen, noch in der Lage des Landes noch sonst in irgend etwas Materiellem; sondern er besteht in ihrer Liebe zur Freiheit [...]

Ich habe es erlebt, wie ein deutscher Verleger auf diesen einen Satz abgefahren ist, wie diese eine Sentenz schlagartig den Weg zu Keller oder zumindest – was auch nicht zu verachten ist – den Weg für Keller freigelegt hat. Nun hängt er also, der Satz, an vielen Ecken von Frankfurt und fordert, mit den drei Punkten am Schluß, auf zur Reflexion oder zum Weiterlesen.

Der erste Betroffene war ich selbst. Herausgefordert zur Reflexion und zum Weiterlesen.

Zur Reflexion, nämlich der editorischen: der Satz lautete in der ursprünglich konsultierten Textvorlage etwas anders:

Der Nationalcharakter der Schweizer besteht nicht in den ältesten Ahnen, noch in der Sage des Landes noch sonst in irgend etwas Materiellem

Die "Sage des Landes" als "etwas Materielles"? In allen Büchern, die den nachgelassenen Aufsatz publiziert haben, von Max Kriesi (1918)[2]> über Fränkel/Helbling (1947)[3] bis hin zum Deutschen Klassiker Verlag (1996)[4], überall und kommentarlos dasselbe: "die Sage des Landes". Ein Blick in den handschriftlichen Befund zeigt aber ganz klar ein anderes Bild: nicht von der "Sage", sondern der "Lage" des Landes ist die Rede; und das ist auch einzig plausibel, denn Keller hatte nichts gegen Geschichtsmythen einzuwenden, sofern sie nämlich dem Freiheitswillen dienten.

Soviel zur Reflexion. Doch nun zum Weiterlesen: Der Satz auf dem Plakat ist in Tat und Wahrheit nicht zu Ende:

Der Nationalcharakter der Schweizer besteht nicht in den ältesten Ahnen, noch in der Lage des Landes noch sonst in irgend etwas Materiellem; sondern er besteht in ihrer Liebe zur Freiheit, zur Unabhängigkeit, er besteht in ihrer außerordentlichen Anhänglichkeit an das kleine, aber schöne u theure Vaterland, er besteht in ihrem Heimweh, das sie in fremden, wenn auch den schönsten Ländern, befällt.

Zwar nicht gerade eine eminent politische Kategorie, ist das Heimweh, "desiderium patriae", halt doch, als sanfterer Gegenpart zum Freiheitswillen, mitzudenken. Die ganze Dialektik dieser Sache wird Keller am Ende seines zweiten großen Deutschland-Aufenthaltes in poetischer Gestalt entfalten: in der Seldwyler Erzählung "Die drei gerechten Kammacher", wo Jobst (der Sachse) in Seldwyla "zufällig an ein Saugeröhrchen des guten Auskommens" gerät und nun still daran saugt, "ohne Heimweh nach dem alten, ohne Liebe zu dem neuen Lande" und eben deshalb ohne Verständnis und Interesse für die "Einrichtungen und Gebräuche" der Schweizer.

Das Manifest von 1841 fährt, nach durchgestandenem Heimweh, fort:

Wenn ein Ausländer die schweizerische Staatseinrichtung liebt, wenn er sich glücklicher fühlt bei uns, als in einem monarchischen Staate, wenn er in unsre Sitten u Gebräuche freudig eingeht und überhaupt sich einbürgert, so ist er ein so guter Schweizer, als einer, dessen Väter schon bei Sempach gekämpft haben.

Soviel zum Thema Schweiz und Europa. Soviel zum Thema Asylpolitik, wenn Sie wollen. 1841. Vor-Vormärz. Die Schweiz: noch ein Bund von 22 selbstherrlichen Republiken; Zürich steht unter konservativer Regierung, Deutschland liegt – so Keller – im "Dornröschenschlaf".

Zwischenbemerkung

Lassen Sie uns von hier aus einen Sprung vorwärts wagen ins bewegte Jahr 1848. Aus aktuellem Anlaß natürlich, aber auch, weil man ausgerechnet da – und nicht vorher und selten danach – bei Keller wieder auf ein Dokument von ähnlicher Art, Selbstklärung und Manifest zugleich, stößt.>

Hätten wir Zeit, soviel Zeit vielleicht wie ein Erzähler im 19. Jahrhundert, würden wir ausführlich all jener Ereignisse gedenken, die in diesem Jahr auf der europäischen Bühne stattgefunden: der Februar-Revolution in Paris, der polnischen und italienischen Befreiungs–kämpfe, der Märzrevolutionen und der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Natürlich würden wir auch eingehend der Schweiz gedenken, wo vieles – ausnahmsweise – erstaunlich früh begonnen hat und nicht wenig – im Gegensatz zu Deutschland – auch tatsächlich erreicht worden ist: vor allem die Umwandlung des Staatenbundes in einen Bundesstaat mit liberaler, fortschrittlicher Verfassung (am 6. November 1848 trat das vom Volk gewählte Parlament erstmals zusammen und wählte die 7köpfige, nur aus Liberalen zusammengesetzte Bundesregierung).

Bei dieser Gelegenheit würde ich auch das Fähnlein der sieben Aufrechten erwähnen, das zwölf Jahre danach diese Übergangszeit in poetischer Form reflektiert:

als Ausdruck der Zufriedenheit mit den vaterländischen Zuständen [...], als Freude über den Besitz der neuen Bundesverfassung![5]

wie Keller selber 1889, gegen Ende seines Lebens, rückblickend erinnert.

Ausführen würde ich auch, wie Keller, aus München zurückgekehrt, das Malen aufgegeben und sich ab 1843 der politischen Lyrik verschrieben hat, inspiriert v. a. durch Georg Herweghs Gedichte eines Lebendigen, denen Keller 1845 seine Lieder eines Autodidakten nachschickte – im Deutschen Taschenbuch,[6] das im gleichen Verlag erschien wie Herweghs Gedichte: nämlich in dem (vom deutschen Bundestag) verbotenen Exilverlag von Julius Fröbel, Kellers früherem Geschichts- und Geographielehrer.

1846 war Kellers erster Gedichtband bei Anton Winter in Heidelberg publiziert worden: Erstlingswerk und zugleich erklärter Abschluß der lyrischen Produktivität. Ich zitiere wiederum aus Kellers spätem Rückblick:

Die Aufregungen des Sonderbundskrieges und der darauffolgenden Februar- und Märzrevolutionen verrückten aber den Dichtern den Kompaß und stellten die Zeitlyrik eine Weile kalt. Die Einen saßen in den Parlamenten, die Andern vertauschten die Poesie mit mißlichen Kriegsthaten; für Gottfried Keller eröffnete sich der Ausweg, daß ihm von Seite der Kantonsregierung ein Reisestipendium behufs einer Orientfahrt zur Gewinnung "bedeutender Eindrücke" angeboten wurde, übrigens ohne bestimmteren Zweck. Um solche Reise nutzbringender zu machen, wurde ihm freigestellt, vorher ein Jahr zur Vorbereitung auf einer deutschen Universität zuzubringen. Demnach begab er sich im Herbst 1848 nach Heidelberg; allein statt den ägyptologischen und babylonischen Dingen nachzugehen, ging er denjenigen nach, welche den Tag bewegten und von der Jugend gerühmt wurden.[7]

Nach der politisch motivierten lyrischen Produktion nun also, bei Keller 1848, politisch bedingte literarische Funkstille. Interessant ist allerdings, was sich im Verborgenen tut. Es gibt dafür kein hervorragenderes Dokument, als das von mir so genannte "Mai-Manifest", das eigentlich im Mittelpunkt meines Referates stehen sollte. Ich komme gleich darauf zu sprechen.

Doch vorher noch eine Bemerkung zu Kellers Wahl von Heidelberg. Heidelberg gehörte zum Großherzogtum Baden. Baden, die republikanisch-revolutionäre Südwestecke Deutschlands, spielte mit seinen von Struwe und Hecker angeführten Volksbewegungen für die Schweizer und insbesondere die Zürcher Liberalen eine besondere Rolle. Die Schweizerischen Liberalen scheinen nämlich wenig Vertrauen in das sogenannte "Professorenparlament" in der Paulskirche gehabt zu haben und kamen den süddeutschen Volksbewegungen anfangs mit teilnehmendem Interesse und durchlässigen Grenzen entgegen. Sprechendstes Zeugnis dafür ist der lange dauernde und aufwendig geführte Sonderkrieg zwischen der Neuen Zürcher-Zeitung, dem damaligen (!) Sprachrohr der kämpferischen liberalen Bewegung in der Schweiz, und der Deutschen Zeitung, dem einflußreichen, konservativen, von dem Historiker Gervinus redigierten Heidelberger Blatt. Die Deutsche Zeitung zog nicht nur fast täglich über die republikanischen Vaterlandsverräter in Baden her, sondern brandmarkte auch die liberal-radikalen Schweizer als deren – franzosenhörige – Helfeshelfer.

Diese Zeitungsfehde war mit Sicherheit für den liberal-radikalen Keller von großer Wichtigkeit, vor allem aber natürlich die badische Bewegung selbst. Was Keller dann tatsächlich in Heidelberg antrifft, ist nicht ganz das Erwartete, wie wir aus seinen Briefen wissen. Umgekehrt aber auch bedeutend mehr. Denn da residieren nicht nur die großen konservativen Universitäts-Professoren, die Keller zum Teil aus Zürich als ehemals radikale Emigranten kennt; sondern da ist auch Ludwig Feuerbach, die "gegenwärtig weitaus wichtigste historische Person in der Philosophie", wie Keller an seinen Freund Baumgartner schreibt (28.1.1849). Er bringt Keller zum Jahresende bei, daß, da die Welt eine Republik sei, sie weder einen absoluten noch einen konstitutionellen Gott vertrage.

Nun aber ein paar Monate zurück: zum schon wiederholt versprochenen Mai-Manifest.

Das Mai-Manifest 1848

Es handelt sich um zwei heftgroße Doppelblätter von dünnem, grünlichem Papier, 8 Seiten, mit schwarzer Tinte beschrieben. Sie liegen, gleichsam verwaist, – unter Sammelsurien – im Nachlaß herum. Man hat für sie – archivalisch – keinen Ort gefunden. Das aber ist kein Zufall. Denn auch die Keller-Interpreten und -Editoren haben bisher nicht allzuviel mit dem Inhalt dieser Blätter anzufangen gewußt. Meistens werden sie an Kellers Tagebuch und Traumbuch angegliedert. Das ist auch ganz plausibel, denn auch sie weisen drei Datums–eintragungen (vom 1. bis zum 3. Mai) auf, was zumindest den Anschein privater Tagebuchblätter erweckt. Was dabei aber übersehen wird, ist die Tatsache, daß Keller die Eintragungen gerade nicht im Traumbuch, wo noch mehr als genug Platz gewesen wäre, gemacht hat, sondern auf zwei separaten, mit Korrekturrand versehenen Doppelblättern.[8]

Ich erlaube mir hier öffentlich, diese scheinbaren Privat–Notate als ein Stück geradezu extrem durchkomponierter Prosa zu lesen. Es beginnt und endet schon damit, daß die Privatheit ja gar nicht die Eigenschaft dieses Textes ist, sondern sein Thema. Der letzte und auch der einzige Satz, der unter dem 3. Mai eingetragen ist: lautet apodiktisch:

Nein, es darf keine Privatleute mehr geben!

Auf diesen einen Satz – ein Befehl – scheint das ganze Dokument zuzusteuern. Es beginnt mit der gemütlichen Datumsüberschrift "Am Abend des 1. Mai 1848", fährt fort mit einer gemächlichen, wenn auch nicht ganz harmlosen Betrachtung und geht dann über in einen Erlebnisbericht, vielmehr eine abgründige Erzählung. Es folgen kritische Kommentare zu nationalistischen deutschen Zeitungsberichten über die polnischen und italienischen Freiheitskämpfe und über die Vorgänge im revolutionären Frankreich. Schließlich eine engagierte Gesamteinschätzung der politischen Großwetterlage in Europa, mit dem hoffnungsvollen Schluß:

In zwei Jahren zählen wir 1850. Was kann da nicht alles reif werden und sich vorbereiten zur großen Wendung unserer Geschichten!

(man höre: "Geschichten", nicht etwa "Geschichte"!).

Am 2. Mai dann bricht auf gedrängten 1 ½ Seiten, beschworen in apokalyptisch-hymnischen Bildern, Schlag auf Schlag, die Zukunft aus: das ganz andere, wo die Erfahrungen von Jahren sich in Minuten zusammenziehen und jedes Leben substantiell wird, wenn es sich nur der "öffentlichen Gemeinschaft" verbindet.

Und schließlich, am 3. Mai, eben das erwähnte Verdikt:

Nein, es darf keine Privatleute mehr geben!

Der eine Satz bringt, rhetorisch, den gesamten Tumult des Redens zum Stillstand. Und glaubte man ihm, so wäre er vielleicht der Tod: der Beschaulichkeiten, des Erzählens, der Kritik, der Prophetie, kurz: des ganzen aufwendigen Monologes.

Ich erinnere voraus, an Kellers nächstes großes Manifest: den Grünen Heinrich, wo alles noch einmal, wenn auch ganz neu, erzählt wird. Heinrich ist es, der die befohlene Aufhebung vom privaten im allgemeinen Leben nicht schafft; und er muß am Ende, als Romanperson, sterben, damit Gottfried, der Autor, auf seine Art weiter leben kann.

Das Mai-Dokument von 1848, als privates Tagebuch, als politisches Manifest und als verkapptes poetisches Programm des nachfolgenden großen Romans – mehr wage ich dazu im Augenblick nicht zu sagen.

Lassen Sie mich abschließen mit der eigentlich erzählerischen Passage des Dokumentes, die übrigens, in gewandelter Form, tatsächlich auch im Grünen Heinrich wieder erscheint. Es handelt sich um den Gang zum Zürcher Jahrmarkt, den das epische Ich am Morgen des 1. Mai auf eigene Verantwortung unternimmt.

Ich trat in ein Wachskabinett; die Gesellschaft der Potentaten sah sehr liederlich und vernachläßigt aus, es war eine erschreckende Einsamkeit und ich eilte durch sie hin in einen abgeschlossenen Raum, wo eine anatomische Sammlung zu sehen war. Da fand man fast alle Theile des menschlichen Körpers künstlich in Wachs nachgebildet, die meisten in kranken, schreckbaren Zuständen, eine höchst wunderliche Generalversammlung von menschlichen Zuständen, welche eine Adresse an den Schöpfer zu berathen schien. Ein ungeheuer großes Herz, welches seinen Eigner getödtet hatte, führte das Präsidium und ein sehr schön ausgebildeter Magenkrebs schien der Sekretär oder Schriftführer zu sein. Ein ansehnlicher Theil der ehrenwerthen Gesellschaft bestand aus einer langen Reihe Gläser, welche vom kleinsten Embrio an bis zum fertigen Fötus die Gestalten der angehenden Menschen enthielten. Diese waren nicht aus Wachs, sondern Naturgewächs u saßen im Weingeist in sehr tiefsinnigen Positionen. Diese Nachdenklichkeit fiel um so mehr auf, als die Bursche eigentlich die hoffnungsvolle Jugend der Versammlung vorstellten. Plötzlich aber fing in der Seiltänzerhütte neben an, welche nur durch eine dünne Bretterwand abgeschieden war, eine laute Musik mit Trommel u Zimbeln zu spielen an, das Seil wurde getreten, die Wand erzitterte und dahin war die stille Aufmerksamkeit der kleinen Personen, sie begannen zu zittern und zu tanzen nach dem Takte der wilden Polka, die drüben erklang; das große Herz mochte noch so geschwollen aussehen, der Magenkrebs noch so roth werden vor Aerger, es trat Anarchie ein und ich glaube nicht, daß die Adresse zustande kam. Die einzige Merkwürdigkeit des Marktes, welche einigen Zuspruch erhielt, war ein Rhinozeros. Das Schicksal dieser antediluvanischen Bestie ist eng mit dem Falle des Königthums in Frankreich verknüpft, indem sie für den Jardin des plantes in Paris bestellt, aber von der provisor. Regierung wieder abbestellt wurde, weil man dort jetzt das Geld sonst brauche. Heimatlos irrt das altmodische Thier nun in der Schweiz umher, doch ist es nicht brotlos, da seine Seltsamkeit und sein Horn auf der Nase ihm ein hinlängliches Auskommen sichern. Wohl jedem, der in diesen Zeiten etwas Rechtes gelernt hat.

 

Anmerkungen

Referat gehalten am 10.10.1998 im Holzhausenschlößchen, Frankfurt a. M. (Presseempfang des Stroemfeld Verlages, Basel und Frankfurt a. M.)

[1]    Standort des Studienbuches: Zentralbibliothek Zürich, Ms. GK 2. Zitat S. 32 ff.

[2]    Hans Max Kriesi: Gottfried Keller als Politiker. Frauenfeld und Leipzig: Huber 1918. S. 244.

[3]    Gottfried Keller. Sämtliche Werke. Hrsg. v. Jonas Fränkel, fortgesetzt von Carl Helbling. Bd. 21, hrsg. v. Carl Helbling. Bern: Benteli 1947. S. 103. – Ebenso in: Jonas Fränkel: Gottfried Kellers politische Sendung. Zürich: Oprecht 1939. S. 19. Fränkel kommentiert sogar noch:

"Wenn jener deutsche Anonymus das Entstehen einer schweizerischen Nationalität auf Belebung des schweizerischen Mythos durch Dichter und Historiker zurückführen wollte, so erwidert ihm Keller: Der Nationalcharakter der Schweizer besteht nicht in den ältesten Ahnen, noch in der Sage des Landes [...]." (ebd.)

[4]    Gottfried Keller. Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 7: Aufsätze Dramen Tagebücher. Hrsg. v. Dominik Müller. S. 617.

[5]    Chronik der Kirchgemeinde Neumünster, Hrsg. v. der Gemeinnützigen Gesellschaft von Neumünster. Zürich 1889. S. 433.

[6]     Deutsches Taschenbuch. Erster Jahrgang. Zürich und Winterthur: Verlag des literarischen Comptoirs 1845. S. 167–236.

[7]     Chronik der Kirchgemeinde Neumünster, S. 431 f.

[8]    Standort: Zentralbibliothek Zürich, Ms. GK 8 Nr. 7a. Publiziert u. a. in: Gottfried Keller. Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 7, S. 682–688