Glossen

Letzthin in St. Gallen

Da war eine Veranstaltung, so ungefähr anfangs Dezember. Felix der Verleger hat eingeladen in sein Haus (das auch der Verlag ist) zu «Schnäppchen und Häppchen». Felix ist einer, der ein öffentliches Tagebuch («Tageskommentare») führt, in dem er uns mitteilt, mit wem er sich tagsüber getroffen und was er abends mit seiner Frau (Monika) gekocht und gegessen hat. Und Felix ist einer, der tolle Kunst macht, was sogar seine Hauptprofession ist. Und eben: Felix ist einer, der Bücher verlegt: witzig, engagiert, beharrlich und ohne viel Aufsehens zu machen. Kunstbücher vor allem, aber auch andere, wenn ihm deren Texte einleuchten. Zu den Texten, die ihm einleuchten, gehören jene von Peter Liechti. Der ist ein Filmer, und er soll sehr gute Filme gedreht haben. An jener Veranstaltung von anfangs Dezember aber las er, zum Abschluss der geistigen «Häppchen», aus einem Bändchen: «Fragen an meine Eltern». Ich bin kein übertriebener Liebhaber solcher Erkundungen, aber die Lesung hat mir gefallen, und ein Bild hat sich eingeprägt: wie der Autor einem Passanten begegnet, der zufällig sein Vater ist, der hier wie ungeschützt inmitten der Menschenmenge erscheint, was beide, wie sie sich gegenseitig erkennen, in Verlegenheit versetzt.

Nicht für dieses Buch habe ich mich dann entschieden, sondern für das frühere, das auch auf dem Büchertisch lag: Lauftext. Wieso, weiß ich nicht genau, denn eigentlich haben mich das breite Format, der dicke Einband und der graufarbene Flattersatz mit dem breiten weißen Außenrand nicht gerade angesprochen. Trotzdem also, vielleicht um mich selbst auf die Probe (was für eine Probe?) zu stellen, habe ich's gekauft.

heigoldUnd gleichsam als Gegengewicht dazu habe ich mir vom gleichen Büchertisch ein weiteres, ein reines, ja sogar handsigniertes Künstlerbuch erstanden. Ein Klotz von einem Buch, mit ungefähr genau elfhundertsiebzig Bibeldruck-Seiten, von denen nur die Rectoseiten mit je einem Motiv schwarz bedruckt sind. Auf den Rückseiten aber scheinen diese Motive, gespiegelt als Grauzeichnung, durch, woduch sich denn lauter einander kontrastierende Doppelseiten ergeben, die wiederum durch die durchscheinenden Motive der voraufgehenden und der nachfolgenden Seiten grundiert werden. Die Motive selbst: hunderterlei Varianten von Figuren, Köpfen, Gegenständen, fragmentiert oder angedeutet nur durch aufgestempelte Flächen und Umrisse – Rorschach-Tests für die Betrachterphantasie. Fast ein Witz schon ist die mikroskopisch kleine, rückseitig spiegelbildlich aufgedruckte Paginierung, die nur wie ein zarter Hauch zur Vorderseite, der sie eigentlich gilt, durchdringt. Ein Klotz ist dagegen, wie gesagt, das Ganze, aber ein geschmeidiger Klotz, den man trotz der festen Kartondeckel leicht aufschlagen kann, vorne, in der Mitte, irgendwo, und die Blätter liegen genau so, wie sie müssen, so dass das weitere Hin- und Herblättern sich eher wie ein tändelndes Anschubsen ausnimmt als wie ein richtig seriöses Blattumwenden. Und bei alledem wird im ganzen Buch kein Sterbenswörtchen verloren, es sei denn das unvermeidliche auf dem Titel: Otto Heigold. Manual. Vexer. (Kurzvideo BILDZEICHEN)

Doch zurück zu Peter Liechti und seinem Schreib-, Denk- und Wanderbuch: Lauftext – ab 1985. Vexer Verlag St. Gallen. Hier ist es ganz und gar das Wort, das regiert und gewiss nicht nur ein «Nebenprodukt» des Filmens ist, sondern seine eigene Gewichtigkeit behaupten darf, so provisorisch, unabgeschlossen und formlos es sich auch geben mag. Ein ungemein sympathisches Buch ist es, erzählend und räsonierend von Einem, der – gottlob – noch immer nicht angekommen ist. Ein bisschen mittendrin zwischen Büchners Lenz und Robert Walsers Spaziergang, ein bisschen holperig manchmal, doch auch leichtfüßig oft und wunderbar treffsicher. «Gestern war nicht mein Tag.» Lapidar. Kennt jeder, sagt jeder. Aber nicht jeder läutet damit einen Abschnitt ein, so entschieden und unumstößlich, dass man alles sofort glaubt und froh ist, dass es Heute ist. Tröstende Trostlosigkeit.

liechtiEinmal füttert er, der Erzähler, einen Fuchs, was ihm den Tadel des benachbarten Bauern einträgt. Recht hat er wohl, der Bauer, denkt der Erzähler, räsoniert aber grüblerisch weiter, was nicht allzu gut ankäme (bei mir), wenn's nicht so absolut entwaffnend (bauernschlau!) enden würde:

Irgendwie fühl ich mich dem Fuchs verwandter als dem Bauern – obschon ich weiss, dass der Fuchs wohl eher wie der Bauer denkt.

Ein andermal, wie sich der Autor auf seinem Fußmarsch der Heimatstadt St. Gallen, die ihm 2010 auch den Kulturpreis verliehen hat, nähert, heißt es:

Richtung St. Gallen ist es deutlich kälter geworden. Immer war das so, dass es Richtung St. Gallen kälter geworden ist, egal, woher man kommt.

Das sitzt, weil hier, wie schon zuvor bei der Fabel vom Fuchs, Gedanken, Bild und Sprache so perfekt zusammenklingen, als wären sie aus einem Stoff.

Und ich? Mir bleibt wohl nichts mehr zu tun, als mir endlich so schnell wie möglich einen echten Liechti-Film anzusehen!

Nachtrag. Ein halbes Jahr ist vergangen seit der Niederschrift dieses Berichtes — und Peter Liechti ist, Anfang April 2014, verstorben. Lauftext abgelaufen.