Die folgenden Notizen entstanden anlässlich eines Ostberliner Aufenthalts. Er galt der Einsichtnahme in Briefe der Karoline von Günderrode in der Deutschen Staatsbibliothek unter Linden.
Donnerstag, 25. August 1982
Mit den Informationen zu meinem bevorstehenden Berlin-Aufenthalt (DDR) harzt es. In der DDR-Botschaft in Bern erhalte ich das Visum, erfahre aber nichts über die Unterkunft. Unterkühltes Beamtenlächeln hinter abschirmendem Glasschalter bei der Frage, ob ich meine Bücher mitnehmen dürfe. Telefon an Hr. W., den II. Sekretär der DDR-Botschaft, der mir einzig den Rat gibt, die Bibliothek in Berlin anzurufen. Am Berliner Apparat eine weibliche Stimme, die lacht und mit mir flirtet, bis ich verzeihe, dass auch sie auch nichts weiß und nichts selbständig entscheiden kann, vielmehr mich an die Botschaft zurückverweist, von der ich eben komme. Also: Ich soll mich dann einfach beim Pförtner melden und Kolasa (ja: Kolasa!) verlangen, sie sei bis 17.00 in der Bibliothek und werde dort (Lachen!) auf mich warten. Sie nimmt sich alle Zeit am Telefon und scheint sich insgeheim über die Umständlichkeiten, ihre eigenen Ausflüchte und Erklärungsversuche zu amüsieren. Spiele ich mit in einem Spionageroman?
Bundesamt für Bildung und Wissenschaft, Bern 30. August 1982
Wie Ihnen bereits telefonisch mitgeteilt, wurde Ihr Aufenthalt vom 6. bis 10.9.1982 an der Deutschen Staatsbibliothek, Unter den Linden 8, 1086 Berlin DDR, inzwischen von der Botschaft der Deutschen Demokratischen Republik in Bern schriftlich bestätigt.
Die Konsularabteilung der genannten Botschaft steht Ihnen für die Erteilung von Visum (habe ich das nicht bereits?) und evtl. Zusatzinformationen gerne zur Verfügung.
Dienstag, 7. September 1982
Berlin Alexanderplatz. Frühstück in einem Selbstbedienungsrestaurant für Touristen. 2 Brötchen, Butter, 1 Tasse Kaffee, 1 Ei, macht zusammen M. 1.91. Angenehmes Sitzen an langen Tischen, einem Zürcherischen Frauenverein-Restaurant vergleichbar. Internationales Publikum, mit Verschlingen von Wurstwaren und Hackfleisch beschäftigt. Anschriften deutsch, englisch, französisch, russisch.
Die Ostberliner Plätze: großräumig, von hässlichen Bauten umstellt, verkehrsfrei und nur von Einzelpersonen und kleinen Gruppen überquert. Überall patrouillierende Volkspolizisten, im Schlendergang, keinen unangenehmen Eindruck machend und bereitwillig Auskünfte erteilend. Abends starke Zunahme der Ordnungshüter. Gespenstische, fast mit Händen greifbare Ruhe, die ich, hin- und hergehend, irgendwie genieße. Die Leere hat hundert Augen, die mich aber völlig unbehelligt lassen, vielmehr: beschützen. Hier wird mir, auch spät nachts, nichts passieren können.
Straßenverkäufer, Musikanten, Bettler gibt es hier keine.
Mittag. Im Operncafé. Eines der besseren Restaurants mit großen Sälen, weißen Tischtüchern. Salatbuffets zur Selbstbedienung (Beilage). Gäste aus der BRD mit Tagesvisum. Polstersessel und -bänke, auf die man sich ganz vorne setzen muss. Spannteppich. Pavatex-Decke. Scheußliche Lampen. Toilettenbenutzung («Pachttoilette») -.10, Wasser/Seife -.20, nur weiß ich nicht, wo zu bezahlen ist.
Gegen Abend auf dem Fernsehturm. Grandioser Blick über die Stadt. Auf dem Turm gibt es auch endlich einen Stadtplan («der Berliner») zu kaufen (deutsch, russisch, englisch, französisch), Maßstab ca. 1 : 25'000. Westberlin als gelber Fleck ausgegrenzt, die Mauer dreifach markiert – im Gegensatz zum Westberliner Stadtplan, der die Existenz der Grenze durch Unkenntlichkeit leugnet. Vom Turm herab ist die Mauer als helle Schneise überdeutlich sichtbar, drunten im Stadtleben scheint sie aber nicht wahrgenommen zu werden.
«Die drüben» – das sind nun die Westberliner. Von hier aus erscheint der Westen als fremd und unheimlich. Hinter dem Dunkel, in dem sich die hiesige Stadt verläuft, bricht, "drüben", plötzlich ein Lichtgeflimmer aus: Straßen als Glitzerschlangen, Hektik, Konsumwut.
Abend. Gegen acht ist selbst die Innenstadt leer. Am meisten Leute auf den S-Bahn-Stationen. Außer Discos kaum ein offenes Lokal zu finden. Wo bleiben die DDR-Bürger? Die Bibliotheksgarderobe ist bis 21 Uhr offen, auch die Museen schließen (aus Rücksichtnahme auf die Werktätigen?) erst relativ spät, sind aber nur spärlich besucht.
Schwierigkeiten, die Unterkunft zu finden. Stumme Häuserblocks, die alle gleich aussehen und das Leben verschluckt zu haben scheinen. Endlich an einer Ecke ein Bierlokal gefunden: 63 Pfennig das Glas (wässeriges, laues VEB-Bier), allerdings nimmt die Bedienende mein Markstück, ohne mit der Wimper zu zucken, als adäquate Begleichung an.