Tagebuch 2013
Sonntag, 15. Dezember 2013
Lektüre: Uwe Johnsons Jahrestage. Suhrkamp Taschenbuch, 1700 Dünndruckseiten. Biegsam, angenehm zum Anfassen und Blätterumschlagen (welch letzteres mit einem leichten Schwung geschehen muss). Aber leider nur geleimt, mit vielen Bruchstellen, so dass das Buch mehr und mehr auseinanderfällt, was eigentlich mit keiner Bibel, die es ja ist, geschehen darf, vielleicht aber doch so sein soll.
Seit Wochen ein Sich-durch-Ringen, ein Versinken im uferlosen Namenarsenal. Ohne Namen-Lexikon (http://literaturlexikon.uni-saarland.de/index.php?id=196) und andere Hilfen gibt's kein Durchkommen. Ellenlange Gespräche mit Dutzenden von Andeutungen, die ich nur zum Teil verstehe. Abertausende von Details. Geteiltes Deutschland immer wieder Parallel dazu die aktuelle amerikanische Gegenwart von 1967/68 mit dem Mord an Robert Kennedy, Vietnam usw. Politdialoge zwischen der Mutter und ihrer zehnjährigen Tochter in nervender Unnatürlichkeit. Wie viele haben dieses Buch wirklich gelesen?
Was hält mich weiterhin dabei, nachdem ich es schon vor Jahren weggelegt, mehrmals, und jetzt erst wieder darauf gestoßen bin? Die schiere Fülle, das Chaos, die Vergeblichkeit, es in den Griff zu bekommen? Oder einfach das beharrlich Sperrige in einer kommunikationssüchtigen Zeit?
Montag, 16. Dezember 2013
Ich bin kein Blog.
Ich tausche keine Meinungen aus.
Ich brauche keine Kommentare.
Ich zwinge mich niemandem auf.
Ich zwittere nicht.
Ich facespucke nicht.
Ich essemessle nicht.
Ich skeipe nicht.
Ich will mir nur einmal täglich die Ruhe erlauben, einen Gedanken fassen und festhalten zu dürfen.
Ich kann einen Gedanken besser festhalten, wenn ich mir vorstelle, dass ihn jemand – notfalls ich selbst – liest. Oder auch nur lesen könnte.
Ich schreibe den Gedanken hier nieder, damit ihn tatsächlich jemand, wenn er möchte, lesen kann.
Ich glaube, dass dies meinen obigen Statements nicht widerspricht.
So einer bin ich. Vielleicht.
Dienstag, 17. Dezember 2013
Literatur-Club. — Meistens überleg ich mir lange, ob ich mir diese Sendung zumuten will. Letztes Mal hab ich sie übersprungen. Aus einer Art Trotz beinahe. Diese Inhaltsangaben, Nacherzählungen und biographischen Aufklärungen brauch ich mir wirklich nicht anzuhören. Nichts, was mich überzeugt, kein Buch, das ich danach lesen würde, wenn ich's nicht auch sonst gelesen hätte. Was mich erschreckt, fast empört, ist die Ignoranz gegenüber fast allem, was die Problematik des Textes als solchen anbelangt. Übersetzungen werden als Originale behandelt, zurechtredigierte oder postum erstellte Texte für bare Münze genommen. Aber ist's denn wenigstens Unterhaltung? Der Hauptagent Zweifel, der eigentlich zweifeln oder wenigstens moderieren müsste, wartet nur darauf, selber zu Wort zu kommen und es möglichst lange zu behalten, legt sich im Stuhl zurück und schwärmt von Proust und Joyce oder von seiner einstigen Jugendlektüre, die Heidenreich, literarisch unbekümmert, beteuert, dass sie mit Handke ein für allemal fertig sei, Hildegard E. Keller lächelt sich vielsagend durch die Runde und der letzte Goethe-Biograph, Rüdiger Safranski, der für die Heidenreich ins 19. Jahrhundert gehört, erzählt und erzählt – tatsächlich wie im 19. Jahrhundert.
Also, ich hab mir die heutige Sendung trotz allem angesehen. Und, zu meinem totalen Erstaunen, zwei Schuh voll rausgezogen: das postum publizierte Ungetüm von David Foster Wallace (Der bleiche König) und Handkes Elegie auf einen Pilznarren. Letzteres, weil die Heidenreich kein gutes Haar daran lassen wollte, ersteres, weil alle darüber entsetzt waren, es auch gar nicht empfehlen wollten und trotzdem nicht anders konnten.
Mittwoch, 18. Dezember 2013
Corporate Identity. — Die Uni Zürich kann ihren Absolventen das Diplom im nächsten Frühjahr nicht ausliefern, weil die Schriftzüge und Logos des neuen Corporate Designs, das schon seit 2010 eingeführt wird und eine halbe Million Franken kostet, noch nicht auf die Abschlusspapiere appliziert werden konnten.
Kein Aprilscherz!
Donnerstag, 19. Dezember 2013
Beim Stöbern in alten Abstellkartons ist mir jenes "Zivilschutzbüchlein" in die Hände gefallen, das 1969 an alle Haushaltungen zwecks Einübung in die geistige Landesverteidigung verteilt wurde, angestiftet vom Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes. Ein unsägliches hetzerisches Machwerk von nicht weniger als 320 Seiten, das inzwischen glücklicherweise in vollständige Vergessenheit geraten ist.
Wir sind abwehrbereit
Wir schlagen zu
Wir machen den Igel
Aus dem Schreckensszenario des besetzten Landes:
In den Schulen wird der Religionsunterricht untersagt. Die Ausbildung von Pfarrern und Priestern wird unterbunden, so daß viele Gemeinden keine Seelsorger mehr haben. Jugend und Erwachsene werden durch allerlei Veranstaltungen systematisch vom Gottesdienst ferngehalten. Kommunion, Konfirmation und kirchliche Trauung werden unterdrückt. (S. 289)
Oder:
Viele Schweizerinnen und Schweizer werden erschossen oder in Konzentrationslager verschleppt. Dörfer werden zerstört. Doch diese Opfer haben nun einen Sinn – weil jeder Schlag gegen den Gegner uns der Freiheit näherbringt. (S. 295)
Das Büchlein kam um ein Jahr zu spät. Die 68er hatten schon die Universitäten besetzt, die Städte infiltriert, die Väter geköpft, die Pfaffen entmachtet und die anrückenden geistigen Landesverteidiger mit Hohn und Spott in die Wüste geschickt. So unerbittlich und zynisch ist die Weltgeschichte.
Samstag, 21. Dezember 2013
Noch drei Tage bis zum Ausbruch der Frohbotschaft! Die Innenstädte werden besetzt, die Fußgängerzonen überflutet, die Velos von den Strassen gedrängt, die Drämmlis überfallen, die Läden gestürmt, die Postschalter mit Paketen verrammelt, die Bank- und Postomaten gesprengt. Eingepackt und weggeschleppt wird, was nicht niet- und nagelfest ist. Die Heiligen drei Könige am Claraplatz rammen ihre Stöcke aufs Podest, die Heilsarmee bläst zum letzten Angriff. Die Theater werden zu Krippenspielen gezwungen, aus den Konzertsälen hallen Kantaten. Die Cliquen formieren sich und verteilen Schnitzelbängge zum Absingen. Girlanden, Fäden, Betlehemssterne, Baslerstäbe werden mit Doppelwatt entzündet. In Festzelten wird Glühwein gezapft. Vorsorglich wird jedem jetzt schon ein Weihnachtsfest gewünscht. Und ein neues Jahr.
Ist das nicht wunderbar?