Tagebuch 2013
Tagebuch 2013
Sonntag, 22. Dezember 2013
Wie jetzt, wo sich die Stunde x so bedrohlich nähert, leicht ersichtlich wird, ist der Countdown-Termin auf den Heiligabend gelegt worden, und zwar ungefähr auf 20.00h. Dann nämlich hat Jahr für Jahr bei uns zu Hause in der Stube das Glöcklein geklingelt, und wir Kinder wurden endlich vom Warten in der Küche erlöst und durften in die Stube treten, wo der Christbaum entflammt und das Christkind, das die Kerzen angezündet, eben durchs Fenster davon geflogen war. Jedesmal, wie verhext, war das Wunder da und der Wundertäter weg, so dass das wunderbare Geschehen mit den Jahrzehnten unvermeidlich die Züge des Katastrophischen annahm, welch bittere Erfahrung noch heute meine Weihnachtsvor- und -nachfreude durchsäuert.
Mehr und mehr kam mir aber der Verdacht, dass es vielleicht allen Menschen so gehen könnte, und sie nur deshalb von Geschäft zu Geschäft rennen, mit Wagenladungen von Geschenken nach Hause stressen, backen und packen, um diesen einen frustrierenden Moment des Eintretens mit dem wohlverdienten Zustand der Erschöpfung überspielen zu können.
Montag, 23. Dezember 2013
NZZ Titel-Hits (alle an einem einzigen Tag!):
«Denkanstösse im Abo» (NZZ Eigenreklame)
«Eine Familie, vier Fäuste» (Die ehemalige Boxweltmeisterin Christina Nigg trainiert ihren Sohn Mischa)
«Wer früh aufsteht, holt mehr Siege» (Der Österreicher Marcel Hirscher steht schon um sieben auf den Brettern)
Das Hindenburg-Omen
(Nachhilfe zur meterologischen Ökonomie)
Falls es jemand noch nicht wissen sollte: Das Hindenburg-Omen ist ein technisches Signal, das «auf eine nachlassende Marktbreite eines Aufschwungs hinweist» und auch das heuer erhoffte «Weihnachts-Rally» in Frage stellt. Kurz und bündig:
Ein Omen wird generiert, wenn folgende Parameter erfüllt sind: Erstens müssen von den an der New Yorker Börse gehandelten Titeln midestens je 2,2% ein neues 52-Wochen-Hoch bzw. 52-Wochen-Tief erreichen. Zweitens darf die Zahl der neuen 52 Wochen-Hochs nicht mehr als doppelt so hoch sein wie die Zahl der neuen Tiefs. Drittens muss an der NYSE die 50-Tage-Linie steigen, und viertens muss der McClellan-Oszillator – ein Mass für die Marktbreite und den herrschenden Trend – im negativen Bereich liegen. […] Ein Hindenburg-Omen gilt als gültig, wenn ein erstes Omen durch ein zweites innerhalb von 40 Tagen bestätigt wird.
(NZZ Börsen-Radar)
Manchmal folgt ein Börsencrash auf das Omen, manchmal nicht. Fehlsignale kommen vor und kommen nicht vor. Analytiker glauben und glauben nicht an das Omen.
Noch kürzer und noch bündiger: Vergiss es!
Dienstag, 24. Dezember 2013
© Ute Schendel
Heute ist nun noch dieses Bild bei mir eingetroffen. Ist es ist nicht wie auf wessen Leib geschrieben? Weitblick, der einbrechenden Nacht entgegen, während der Himmel in euphorischer Stimmung nachblaut und ein Rosa-Orange-Feuerbrand sich als scheidende Hoffnung zwischen Himmel und Erde geschoben hat. Ganz rechts aussen zwei pikante Räuchlein, die sich schräg nach oben verziehen: wie von ausgeblasenen Kerzen.
Mittwoch, 25. Dezember 2013
Nachdem der Weihnachts-Countdown abgelaufen und die Katastrophe ausgeblieben ist, können wir uns auf die letzten Tage und Stunden des Jahres konzentrieren und somit dem Neujahr entgegenbangen, wo dann wirklich etwas geschehen muss. Wenn nicht, werden wir uns unvermittelt an den Oster-Countdown machen, damit es die Ostereier und Osterhasen frühzeitig in die Regale schaffen.
Ausserdem schifft es heute den ganzen Tag, so dass genügend Zeit für aufbauende Lektüre bleibt.
Donnerstag, 26. Dezember 2013
Zu meinem Erstaunen sind die Weihnachtstage noch immer nicht vorüber, weshalb es auch immer noch weiter schifft. Wieso macht mich ausgerechnet die Weihnacht, das Fest der Liebe, von allen christlichen Festtagen am aggressivsten?
Gestern haben wir uns die dreistündige Rede Himmlers vom 4. Oktober 1843 angehört. Auch eine Art Heilsbotschaft: Treue, Ehre, Verantwortung, Unbestechlichkeit, Kameradschaft, Glaube – die Kardinaltugenden für jeden SS-Mann, und wer sich nicht daran hält, wird eliminiert. Es hat nicht geklappt. Wie wär's mit Liebe, Mitleid, Hoffnung – schwache Medizin, wie die Geschichte zu belegen scheint.
Dienstag, 31. Dezember 2013
Zum Jahresende: Zarathustras Vogel (Sils Maria)
Und wahrlich, zu deinem Berge und Baume richten sich heute viele Augen; eine grosse Sehnsucht hat sich aufgemacht …
(Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Vierter und letzter Theil. Basler Ausgabe, S. 69)