Montag, 25. Januar 2016
Vergessen habe ich im Eintrag von morgen (Dienstag) noch das völlig singuläre Buchexemplar Das Schiff des Theseus von V. M. Straka unbekannt. Es ist voller loser Zettel, Ansichtskarten, Briefe etc., die während des Lesens herausfallen und dann separat aufbewahrt werden müssen, auf das Risiko hin, dass niemals wieder der Originalzustand herstellbar sein wird (es sei denn, man sigliere die "Belege" mit den entsprechenden Seitenzahlen).
Dienstag, 26. Januar 2016
Das Widerständige der Bücher. – Sie sind ja durchaus nicht immer das, was sich den haptischen Vorlieben andient. Meine Vorliebe: wenn sich ein Buch, groß oder klein, einfach hinlegen lässt und die aufgeschlagenen Seiten bleiben aufgeschlagen. Ohne Beschwerer, ohne Buchzeichen. Das Buch bietet sich offen dar, ohne dass man physisch in es eindringen müsste. Gerade dicke und schwere Bücher sind es oft, die dem Leser am bereitwilligsten entgegenkommen. Dünndruckpapier, das sich federleicht "umschlagen" lässt, wo man vielleicht auch gern ein paar Seiten "überschlägt". Bibeln! (welchen Inhalts auch immer). Auch dickes Papier darf es sein, und großformatig. (Ein Beispiel: Arno Schmidts späte 'Tafelwerke': Sie brauchen eine eigene Ablegefläche (die Kanzel!), auf der sie sich, in ihrer vollen Promiskuität, darbieten können. Einmal aufgeschlagen, bleiben sie aufgeschlagen. Auch der Satz, Typoskriptsatz, gibt sich in aller Breite, so dass man Zeile für Zeile (28,5 cm) mit den Augen "ablaufen" muss.)
Dagegen jene Bücher, meist Taschenbücher – ob Fadenheftung oder nicht, sei dahingestellt – die sich sperren wie spröde … [Kalauer!]. Sie verstecken die Hälfte ihrer besseren Hälfte im Falz. Von Hinlegen keine Rede. Nicht mal mit einer einzigen Hand offen zu halten. Ein schönes, weil provokatives Exempel die kartonierten Bücher von Urs Engeler Editor. Vier Veränderungen über Rhythmus zum Beispiel. Ein sperriger, Wort für Wort zu buchstabierender Text, Bereicherung und Ärgernis gleichermaßen. So sperrig wie der Text das Buch. Mit der Kraft beider Hände muss man das Ding aufzwingen und für die Dauer der Lektüre mit Gewalt spreizen, damit es nicht gleich wieder zuklappt. Mit der Rechten und der Linken das Papier niederringen, um in den Genuss der Zeilenenden (links) und der Zeilenanfänge (rechts) zu kommen. Lektüre soll – zweifelsohne gewollt und in jeder Hinsicht ausgelotet – anstrengend sein. Als Geschenk dann ist die Schrift so schwarz und fett, dass sie sich, trotz engem Zeilendurchschuss, auch von alternden Augen gut lesen lässt.
[P.S. Vermutlich hat jedes Buch seinen idealen Ort des Gelesenwerdens. Das schamlos einladende auf dem Stehpult, das seriöse auf dem Tisch, das leichtfüßige im Bett und das sperrig-herausfordernde (wo sonst?) auf dem Clo.]
Mittwoch, 27. Januar 2016
Und nun ist er da, angemeldet durch die Böllerschüsse den Rhein herunter, und wieder hab ich nicht dran gedacht und wieder bin ich, loshetzend, zu spät und komme erst am Rheinufer an, wie sie längst, der Vogel und der Leu und der Wilde Mann, ihre Tänze vollführen. Nur der Vogelkopf ragt, seltsam "erhaben", über die Menge empor, Leu und Mann erhasche ich nur, wenn sie schwerfällig hochspringen. Das Kleinbasler Volk umringt die drei "Ehrenzeichen" als ein undurchdringlicher Schutzwall. Kein Attentäter alter Schule, der es "nur" auf einen der Drei abgesehen hätte, fände ein Durchkommen. Auch mir will, trotz vieler Versuche, sogar unterm Elefantenclo (das sie "Fenster zum Himmel" nennen), kein brauchbarer Schnappschuss gelingen.
Donnerstag, 28. Januar 2016
Ja, jeden Donnerstag fahre ich nach Bern an der Aare. Und sei's drum, wenigstens einmal pro Woche daran erinnert zu werden, dass es noch etwas anderes gibt außer Basel a mym Rhy. Etwas anderes als die Basler Fasnacht, deren Vorfieber seit Wochen, seit Monaten durch die Stadt geistert, aus allen Kellern und Beizensälchen drümmelet und pfyfelet.
Steigt man aus dem Berner Bahnhofsloch hinauf ans Sonnenlicht, wird man sogleich vom Unglaublichsten, was der Berner vorzuweisen hat, überfallen: seinem Dialekt. Sprachlos bin ich jedesmal, wenn er aus einem der hübschen Vreneli-Mäulchen quillt als eine eigenständige Entität, sich selbst und der Welt zugleich Herausforderung und unerschütterliche Beschwichtigung.
Und in der Tat: solcher Berner Seins-Entäußerung kann das Basler-Pfyfeli, gnadenlos schrill, von Gott verlassen, nie und nimmer "dMiuch reiche".
Freitag, 29. Januar 2016
Lyrik-Festival. – Vermutlich gilt wirklich, dass man ein Gedicht mindestens zweimal hören muss, weil erst bei der Wiederholung man im Früheren das Spätere erinnern, im ersten Vers den letzten mithören kann. Gar nicht zu reden von den Zeilenbrüchen bei Nichtreimen, die eigentlich das Schriftbild mitfordern, was die Vortragenden zu den seltsamsten Pausierungen und Betonungsverrenkungen zwingt. Dagegen das Plausible der Spoken-Word-Aktionen, dass die Texte einzig im aktuellen Vortrag leben und sich, der Musik gleich, selbstvergessen im Ablauf verzehren.
Samstag, 30. Januar 2016
Gedicht-Anthologien. – Mit hilflosen Augen, eingeschüchtert, kuckt das einzelne kleine Gedicht mich an, unscheinbar unter einer Hundertschaft anderer. Deportiert, seines Kontextes beraubt, ist es sprachlos geworden oder zu fremder Sprechweise gezwungen. Ist denn nicht jedes achtbare Gedicht ein narzistisches Wesen, das nur sich allein möchte, und bestenfalls die anderen von gleicher Abkunft neben sich toleriert.
Ein Vierzeiler (Hänge) von Kuno Raeber, unten auf einer von fünfhundert Seiten (Schweizer-Lyrik-Total-Seiten) – das ist hart! Reduktionen heißt das Bändchen, in dem das Gedicht erstmals veröffentlicht wurde. «Reduktionen» ist Programm, und das Gedicht ist Teil dieses Programms. Jedes Kurzgedicht auf seiner Seite. So vermag es sich zu behaupten. In fremder Gesellschaft hingegen, ohne eingeführt zu werden, wirkt es verloren.