Samstag, 16. Januar 2016
Nostalgische Zeiten. – Vor langer langer Zeit – tatsächlich ist es noch gar nicht lange! – gab es noch die Mikrofilme, die als Archivmedium schlechthin propagiert wurden. Wenn man Zugang zu einem Lesegerät hatte, konnte man sich eine Filmkopie herstellen und zuschicken lassen. Das kostete, im glücklichen Fall, pro Film etwa so viel wie heute das Digitalisat eines einzigen Blattes.
Unvergleichlich war der Verkehr mit dem (damaligen) Ostblock. Die Biblioteka Jagiellonska in Krakau lieferte mir (1984) einen Mikrofilm mit Günderrode-Handschriften (vom Bibliothekspersonal selber zusammengesucht) für den Betrag von Fr. 22.80, der durch Sachwerte zu entgelten war:
Die Ausführungskosten für den obgenannten Mikrofilm belaufen sich auf 22.80 Fr.S. Als Äquivalent dafür bitten wir Sie um Zusendung der folgenden Veröffentlichung:
Wietkiewizs / Stanislaw Ignacy / et la philosophie. … Lausanne 1984. Fr. S 21
Auf der Verpackung schreiben Sie bitte die Bemerkung: 'Austausch für Mikrofilme'.
Datum, Anschrift, Geldbetrag und gewünschter Buchtitel sind mit Schreibmaschine in einem Formular eingetragen, das seinerseits mittels Schreibmaschine auf grobem Briefpapier mit vorgedrucktem Briefkopf angefertig wurde.
Ist es verwunderlich, wenn neben dem bürokratischen Mief, der in solchen Dokumenten sich bekundet, auch ein winziges Stück verlorenen Trostes (dass das Unbezahlbare noch zählte) mitschwingt?
Dienstag, 19. Januar 2016
Arno Schmidt hetzt von einem Kalauer zum andern, so schnell und beharrlich, dass man sich beim Lesen einen Herrzinfakt zuziezn könnt: «wenn einer so pussyoniert Berge 'besteigt' …»; «unerfräulich»; «nickt auch gleich eifrech»; «our pen(i)s will make us famous»; «mit durchtriebenem geschMundsel»; «man betrachtet sich mit fuckelnden Augen»; «Armes Ding – es hat die Liebe».
– wobei letzteres selbstredend kein Kalauer, sondern ein herrliches Poesie ist.
Mittwoch, 20. Januar 2016
Philologie. – "Es gibt keinen zureichenden Grund dafür, die Frage nach dem Rhythmus nur innerhalb der Werke zu stellen. Vielmehr sollte sie sich durchaus über die Textgrenze hinaus erstrecken und auf das Verhältnis der Texte zueinander ausgedehnt werden. Die Bedingung dafür ist eine Offenheit für die Offenheit der Texte, die weniger in sich selbst ruhen als aufeinander beruhen und nicht so sehr bestehen als entstehen, weshalb sie immer auf sich selbst als bevorstehende hin unterwegs sind. Hölderlins Gedichte haben diesen Drang in die eigene Zukunft in hohem Maße und verlieren auch dann, wenn der Autor sie veröffentlicht hat, die Möglichkeit nicht, anders zu werden und sich nahe zu bleiben, indem sie sich näherkommen."
Hans-Jost Frey: Vier Veränderungen über Rhythmus. Basel: Urs Engeler Editor 2000, S. 136.
Es ist hier demnach wie mit dem Hasen und dem Igel: Der eine rennt, und der andere ist immer schon da – nur dass hier beide einer und derselbe sind.
Donnerstag, 21. Januar 2016
Bild folgt
(vielleicht)
am Tag des
Geschehens
Die Kleinbasler fiebern wieder ihrem Vogel Gryff entgegen – und ich verstehe die Geheimwissenschaft von den drei "Ehrenzeichen" noch immer nicht, trotz alljährlicher Aufklärung durch die Kleinbasler Zeitung Vogel Gryff. Genau in einer Woche wird das Fabeltier freigelassen und wird zusammen mit seinen Kumpanen, dem Leu und dem Wilden Mann (stimmt das?), bei unzähligen Umtrünken (das stimmt!), vom Morgen bis in die Nacht durch die Stadt tanzen.
Die diesjährige Sensation: «Vogel Gryff tanzt mit einem neuen Kopf»: «Markante Änderungen erfahren haben speziell die Wächterohren und der wachsame Blick des Adlers sowie die Flügelstellung, deren Formgebung und deren Grösse».
Freitag, 22. Januar 2016
Kuno Raeber
Ufe
Ufe gluegt hemmer
ufe ond hend
gseid det sigs schön
ond mer gsäch wiet ond mer gsäch
dië ganz Wält bes zom
Matterhorn ond bes zom
Fäldbärg. Aber
nochethär donde hemmer
tänkt sigs doch no
schöner was well mer
nor emmer ufe was wemmer
hemmer gseid hemmer tänkt
was wemmer det obe?
Mundartgedicht aus Kuno Raebers Nachlass
Dezember 1982 entstanden
(Schweizerisches Literaturarchiv, Kuno Raeber A-5-h/03_114)
Sonntag, 24. Januar 2016
«… (jaja, ein'n Kuss. Aber den Fall möcht' ich höchstns als eine poetische Möglichkeit stattfindn lassn)»
Arno Schmidt: Abend mit Goldrand, S. 73
So'n Satz kann eigentlich eine ganze Sonntagsnachmittagsration abdecken.
Übrigens very strange: Schmidts holprig-schnoddrige Figuren können einem «ans Herz wachsen», wie's sonst vielleicht nur Comics-Figuren schaffen.