Samstag, 21. Januar 2017
Vorsi
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Vorsi |
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Vorsigluegt heder ond zvorderscht escher gschtande ond nië hed er henderegluegt ond deh of einisch heder nömme witer gwösst ond hed nömme försi chönne als hätter Angscht gha är wär schontsch eifach abe gheit vore abegheit enes Tobel. |
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Vorsi luege ond nie hendere luege ond deh of einisch nömme witer wösse ond nömme vorsi chönne ond schtoh blibe of einisch als wärmer schontsch vore abe- gheit enes Tobel. |
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(Notizbuch, 17. Nov. 1982) |
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(Abgewandt Zugewandt. Zürich: Ammann 1985) |
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Kuno Raeber (1922-1992)
Sonntag, 22. Januar 2017
Aufgrund Tausender über Nacht eingetroffener Verständnisfragen zum gestern mitgeteilten K.R.-Gedicht sehe ich mich veranlasst, in aller Eile eine Übersetzung der Mundartverse beizufügen (vorausgesetzt das noch einzuholende Einverständnis des Verlags und der Übersetzerin).
Avanti
Guardare avanti mai
guardare indietro
e poi d'improvviso
non saper più la strada non
poter più andar avanti
e d'un tratto fermarsi co-
me si fosse
caduti
in avanti in una
forra.
(Kuno Raeber. Poesie, a cura e con traduzione di Annarosa Zweifel Azzone. Lugano: ADV Publishing House 2016, S. 95. – Ein empfehlenswertes kleines Gedichtbuch mit spannender Gegenüberstellung von Originaltext und Übersetzung)
Montag, 23. Januar 2017
Nooteboom. – 533 Tage. Was es mit dem Titel auf sich hat, habe ich noch nicht ganz begriffen. Ist vielleicht auch nicht so wichtig. Lehrreich und unterhaltsam sind die "Berichte von der Insel" aber allemal. "Meine" Bücher, etwas Geschichte und Zeitgeschichte, die Raumfahrt und Kakteen. Und wer erhält den Preis? Die Kakteen natürlich. Wenn alles – das All, das Wort, der Schöpfer, das Geschöpf – gleich viel gilt, dann gilt das Unscheinbare am meisten. Ich bin bereit, die Betrachtungen über Literatur, über die Berliner Mauer und über die Raumfahrt zu überspringen, um schneller (hier, wo's um Langsamkeit geht!) wieder zu jenen schweigenden, stacheltreibenden Wesen zu gelangen, denen der Autor mit den Kindesaugen eines Erwachsenen gegenübersteht. Nur hier, im hilflosen Versuch, dem Unzugänglichen mit Empathie zu begegnen, wird das Buch, Nootebooms Buch, zum Ereignis.
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Dienstag, 24. Januar 2017
Den Witz der "personalisierten" Formbriefe kenne ich inzwischen zur Genüge: "Sehr geehrter Herr Titel Vorname Name". Und immer noch reagiere ich spontan so, als ob ich wirlich ganz persönlich gemeint wäre. Sogar bei Bettelbriefen fällt die Absage schwerer.
Und nun, weil's ja immer weiter gehen muss, der nächste Schritt: die Personalisierung der Inhalte von Druckwerken. Das Schwabe Magazin, Ausgabe 2017|1, gediegenster Mehrfarbendruck. Auf Seite 12 plötzlich, wie ein listiger Bubenstreich, nebenstehendes Bild. Die Broschüre also nicht nur mir ganz persönlich gewidmet, sondern eigens für mich gedruckt, versehen mit meinem Selfie. Ist es spießig, wenn ich das als anmaßenden Übergriff empfinde? Ich snowboarde nicht und lasse mir meinen Namen nicht an den Himmel heften. Auch nicht, und gerade dann nicht, wenn nur ich das zu sehen bekomme. [Hier folgt die ausführliche Begründung, die's jedoch nicht mehr braucht, weil mir gerade folgendes Detail aufgefallen ist:]
Meine ganz persönliche Seite 12 wird im Inhaltsverzeichnis folgendermaßen angekündigt:
Der Digitaldruck macht Print
persönlich und innovativ – Schwabe bietet
Ihnen neue Möglickeiten.
Genau getroffen! Eine richtig schön verunglückte Möglickeit!
Freitag, 7. Juli 2017
„Es war ein Tag von geradezu entsetzlicher Schönheit …“
(Gerhard Meier: Land der Winde)
– was für ein entsetzlich schöner Satz, der absolut für sich stehen müsste, ohne Begründung und ohne mildernde Fortsetzung.
Vorschlag für ein Ein-Satz-Buch! Unabdingbar aber dazu der Name des Autors. Dieser Satz gehört zur Stimme eines Autors, der in aller Skepsis von einer unerschütterlichen Weltfrömmigkeit beseelt ist. Einer Frömmigkeit, die es Gott zutraut, für eine Tageslänge die Hügel, Berge, Bäume, Häuser einem Mann namens Joseph Mallord William Turner zu überlassen, der sie „in Duft und Klang zu verwandeln“ vermag.
Montag, 10. Juli 2017
Trumps Twitterei hat mir die Sprache verschlagen, mich auf Monate lahmgelegt. – Kann man nach diesen Schwällen großmauliger Meinungsbekundungen noch ernsthafte Äußerungen kundtun wollen? Bad, too bad!
Trump – Leviathan
Alles an sich reißen und alles
auffressen und alles
verschlingen. Kein Wehen
im Hain mehr. Drinnen
der Hain und drinnen
das Wehen. Und draußen
nichts mehr.
(Kuno Raeber: Drinnen und draußen. In: Reduktionen. 1981)
und wer's pikanter möchte, halte sich an die Sage von Kaiser Nero und seinem Frosch:
„Nicht dass ihr glaubt,
ich, der ich Alles leiste,
brächte dies nicht zustande,
was meiner Mutter gelang:
einen Sohn aus meinem Leib zu gebären.
...“
Spricht der Kaiser und bricht in das von den Ärzten
schnell untergebreitete Goldtuch
den Frosch mit Blut und vielem Gekotze.
„So aus Kot wächst die Schönheit,
der Gott steht am Ende“
stöhnt der Kaiser,
indes man den Frosch in Prozession
bringt in die vorbereitete Kammer an der äusseren Mauer,
Damit er dort, wachsend hinterm goldenen Gitter,
empfange die Huldigungen des ein- und ausziehenden Volkes.
...
(Kuno Raeber: Neros Frosch, unpubliziert)