Tagebuch 2017

Freitag, 4. August 2017

Himmel

Himmel über Basel

 

Samstag, 5. August 2017

Toteninsel, nochmals. – Schon beim ersten Anblick und dann immer wieder ist mir die kleine, bewaldete Insel auf dem Silsersee als die „Toteninsel“ erschienen. Rundum sichtbar und sicher leicht betretbar, ist sie mir doch ein geheimnisvoll Verschlossenes, das nicht gestört werden will. Einmal bin ich in einem Kajak auf sie zugerudert, um dann doch im letzten Moment zu wenden und zum Ufer zurückzufinden.

Gerhard Meiers Toteninsel hingegen ist die Welt, genauer: Amrain (das ja die Welt ist), bevölkert von lebenden Untoten, geschichtslos im Augenblick eines kurzen, unspektakulären Auftritts gebannt, bis sie zurückkehren unter die Erde, wo die Mehrheit, „magiziniert“ in Skelett-Form, west. – Und eigentlich sind es die Aliens von draußen, die erstaunt diese irdische Art von Leben verfolgen und unermüdlich die ewige Wiederkehr des Unscheinbaren registrieren.

Ich aber lasse lieber alles, Klein und Groß, zu Staub zerfallen und verfrachte es auf jene kleine, dunkle Insel im sonnendurchwobenen See – nur für die Zeitspanne dieses belanglosen Fantasiestücks, versteht sich.

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Sonntag, 6. August 2017 (Meieriaden)

Wo ich mithalten kann:

»Manchmal, nicht in diesem Zusammenhang, tönt's über das Land hin, über das Binnenland, als heulte ein Schiff.«

Wo ich (leider) nicht mithalten kann:

»Ich habe meiner Frau immer im Frühsommer einen Strauß gesammelt, einen Wiesenstrauß aus Salbei, Margeriten, Gräsern und Klee. Es ist wichtig, Sträuße zu sammeln, frühsommers.« (Werke 1, 191)

(Ich wüsste 'beim besten Willen' nicht, wo solches zu finden und wie es zu bündeln wäre. – Hingegen wäre es sehr wohl möglich, dass meine Frau diese Aussage, sollte sie darauf stoßen, etwas „trottelhaft“ fände, womit sie durchaus recht haben könnte. Vielleicht hat ja jeder Schreibversuch etwas „Trottelhaftes“ an sich.)

Und wo ich, dankbar für die Formulierung, lächle:

den „Lachdank der Augen“ gewinnen (Kuno Raeber: Der Schacht)

 

Mittwoch, 9. August 2017

„Und ich fühlte, sehr heftig eigentlich, daß das nun das Zentrum der Welt sein mußte: Amrain, insbesondere die Brauerei zu Amrain, samt den Häusern darum herum und samt den Bäumen darauf, auch jenen, die es nicht mehr gab.“
(Gerhard Meier. Land der Winde. Frankfurt am Main 2007, S. 10)

Dabei war ich bisher sicher, dass Grabs das Zentrum der Welt sei, mit der Kirche, dem Friedhof, dem Rathaus, dem Studner Schulhüsli, dem Konsum, dem Chäs Indermaur, der Drogerie Segenreich, mit dem Margelchopf, dem Schäfli, Ochsen, Hirschen undundund. Ich bin auch nach wie vor davon überzeugt, dass tatsächlich Grabs das Zentrum der Welt ist. Vielleicht hat Meier mit seiner Aussage sich getäuscht oder sie nur eigens für seinen Roman (der ja auch kein Roman ist) erfunden.

 

Donnerstag, 10. August 2017 (Archivschiff)

Und heute der totale Schiff. Morgens, mittags, nachmittags. Bindfäden. Erbarmungslos. Der ganze Hitzestau wird runtergespült, dass es nur so gluckert.

Dabei ist dies mein wöchentlicher Archivtag, mein Ausflugstag in die Bundesstadt. Ich liebe Bern von der freundlichen Seite. Ich flaniere unter den Lauben zum Bärenplatz ohne Bären, vorbei am Bundeshaus (wo ich mir immer kurz als ein geschäftiger Parlamentarier vorkomme), später über die Brücke, die sich mit Auffangnetzen gegen die Berner Selbstmörder gewappnet hat, zum Helvetiaplatz und weiter, rechts abbiegend, aber (des Schattens wegen) links gehend, bis zur Nationalbibliothek, wo in der oberen Etage das Schweizerische Literaturarchiv (Zutritt nach Voranmeldung!) residiert (genauer: residieren wüde, wenn nicht wegen Einsturzgefahr von einem Tag auf den andern der hochspezielle Archiv-Lesesaal ins Parterre ausgelagert und allda dem trivialeren Nationalbibliothekslesesaal eingelagert hätte werden müssen, so dass jetzt nur noch die eigens angebrachten Schildchen auf den hintersten Tischreihen auf die Exklusivität der dort Ansäßigen aufmerksam machen).

So schön also wäre das alles auch heute, wenn ich nicht so verschifft würde und mit tropfnassen Hosen ins Tram müsste, das dann auf der Brücke (nicht der Selbstmörderbrücke!) stecken bleibt, weil alle Trams stecken bleiben bis hinauf zum Bankverein (kein Wunder!), so dass wir Insassen die Erlaubnis zum irregulären Ausstieg vom Tram in den Schiff erhalten, wo wir uns nun mit Schirm und Rucksack rudernd Richtung Bahnhof absetzen. — Schön ist das nicht, aber es gibt was zu erzählen, sogar später in Bern, wenn ich dort angekommen sein und die Hosen trockengesessen haben werde.

 

Freitag, 11. August 2017

Winterastern. – Wenn ich, botanischer Analphabet, der ich bin, mir unter „Winterastern“ bloß etwas vorstellen könnte. Vielleicht würde ich dann etwas leichter durch Meiers Amrainer Tetralogie segeln, wo diese Dinger an des Protagonisten „Ostwand der Seele“ hangen und mehr als ein halbes Hundert Mal von dort herüberwinken. Sie werden – ihr Urbild – von Dreischwestern auf Armen getragen und sprießen am Ende auf Baurs Grab, als „porzellanfarbene“, was mir die Sache vielleicht nicht luzider, aber doch sicher noch wohltönender macht. – So ist es halt mit der Poesie, man versteht sie, auch wenn man sie nicht versteht.