Montag, 1. Januar 2017
12:48 – Im Handke-Reservat eben zu jener Stelle gelangt, wo der Zug auf freiem Feld anhält und der Lokomotivführer samt Sohn neben den Geleisen pinkeln geht. Ein würdiges Schlussbild für das abgelaufene, von etlichen Leuten als "verschissen" titulierte Jahr.
(Übrigens hindert der unversehens eingetretene Akt privater Notdurft Handkes Erzähler-Ich nicht daran, sich zu den beiden Akteuren zu gesellen und ihre Gespräche über das freudig erwartete Nachtmahl auszuhorchen.)
Wie ich überhaupt zu Handke (seinem letzten Buch) kam? Unbeabsichtigt, in Berlin, und auf Umwegen. Eine bekannte Buchhandlung in Charlottenburg besuchte ich, die von einer entfernten Verwandten Kuno Raebers, der nun mal mein derzeitiges Schicksal ist, geführt wird. Das Gespräch mit der Buchhändlerin brachte keine neuen Einsichten zu Raeber. Halbwegs aus Verlegenheit schaute ich mich darauf nach einem Buch um, das mich interessieren könnte und stieß dabei auf Handkes Roman. Erst jetzt erinnerte ich mich, dass Die Obstdiebin im Literarischen Quartett besprochen worden war, und zwar (von mindestens einer der Beteiligten) so abgrundtief verständnislos, dass es mir eine Empfehlung war, der ich hier, verspätet, ohne Zögern folgte. Denn natürlich: Handke ist – gottlob! – eine Zumutung.
Montag, 2. Januar 2017
Happy New Year! – Wenn schon, muss man der Erste sein. Nur als Erster hat man die Freiheit, seine Neujahrswünsche so anzubringen, wie man möchte. Der Zweite hat das Nachsehen. Grüßt zurück, (a) als ob nichts geschehen wäre, (b) als ob er nur darauf gewartet hätte, (c) als hätte man ihn zu einer kreativen Antwortvariante gezwungen, (d) als müsste er sich kurz fassen, weil er so viel zu sagen hätte, dass damit zu beginnen eine Anmaßung wäre, weil, (e) wenn er es wirklich sagen würde, er damit den Ersten zu einer Antwort auf die Antwort zwänge, was gewiss nur dessen Unmut erregen könnte. Grüßt der Zweite jedoch gar nicht zurück (was nicht zu empfehlen ist), so wird er (f) bis zur nächsten Jahreswende sich schuldig fühlen und bei jeder Begegnung eine Ausrede ersinnen müssen, es sei denn, er sei von so liderlichem Charakter, dass ihm (g) nichts etwas anhaben kann, was aber nicht hindern wird, dass sich nächstes Jahr eine gedoppelte Menge von Leuten findet, die sich um das Erstrecht bemühen wird. Da dieses aber natürlich nur dem Allerersten zugesprochen werden kann, muss sich das Karussell weiter und weiter und weiter drehen – und wenn es nicht gestorben ist, so … Logo!
Dienstag, 3. Januar 2017
Leute, die lange Sätze nicht mögen … Schade! Mein Favorit: ein Satz, der mein ganzes Leben, das bisherige und das vielleicht noch ausstehende, in einer einzigen syntaktischen Geste umklammern würde. Vielleicht möchte das jeder Schreibende. Und mein Wunsch ist gewiss nicht neu. Aber lesen? Wer denn möchte sein zweites (vielleicht geschenktes) Leben daran setzen, diesen einen, sein erstes Leben verschlingenden Satz zu lesen?
Mittwoch, 4. Januar 2017
Jahreswechsel. – Übersprungen. Bei offiziellen Feierlichkeiten befällt mich regelmäßig eine völlige Gedankenleere. Einstmals, als junger Mann mit geistigem Potential, glaubte ich, mich beim Jahreswechsel in Ruhe hinsetzen und etwas Bedeutsames auf- oder niederschreiben zu sollen. Einstmals, als jener junge Mann, glaubte ich, mich gegen die exaltierten Festivitäten verwahren zu müssen. Wenigstens durch eine Tagebuchnotiz und das Aufsetzen einer strengen Miene. Tempi passati. Heute? Proste ich jedem zu, der es so möchte, auch mir selber, wenn's sein muss. Doch letzteres: diesmal hab ich's vergessen.
Donnerstag, 5. Januar 2017
Archivglück. – Genau darüber nämlich wollte ich schreiben: über mein alldonnerstägliches Glück, mit der Schweizerischen Bundesbahn (SBB) nach Bern fahren, mich dort in das Schweizerische Literaturarchiv (SLA) setzen und (gleich den Türchen eines Adventskalenders) die Kartonschachteln mit den Nachlasspapieren (eine nach der andern!) öffnen zu dürfen.
Freitag, 6. Januar 2017
Stadttheater. – Heute war wieder ein unglaubliches Theater, draußen über der Stadt. Die Sonne gleißte (ja: gleißte) von Süden her über die Dächer, mit horizontaler Härte und jedes Auge gnadenlos blendend. Und alles einschwärzend und eindunstend, was unter dem Horizont liegt. Der Sonnengott ist ein Tyrann! Wer sich anmaßt, ihm ins Auge zu blicken, wird blind. Durch den Dunstschleier unzählige Rauchwölkchen sich hocharbeitend, bis sie, aufgebend, im Diffusen verschwimmen. Dagegen, aus den hohen Kaminen, die paar graubraunen Dampfsäulen, die das Gelände beherrschen, sich triumphierend ins Himmelsgewölbe einzeichnen, bevor auch sie, seitwärts abschwenkend, verbleichen und kreideweiß sich der Lichtgewalt beugen. Daneben, von Menschenhand der Turm, gewohnt, sich allen, so weit ihr Auge reicht, als weißes Wahrzeichen aufzudrängen. Der Turm – zur Ruine verkommen, die sich, eitel wie sie bleibt, im Dunst zu spiegeln versucht. Und alles portofrei und gratis!