Dienstag, 5. Januar 2016
Das schwerste Buch, das ich besitze – außer Knaurs Grossem Weltatlas, der vier Kilo und sechshundert Gramm wiegt und, wie der Titel besagt, die ganze Welt enthält – ist das Schweizer Fahnenbuch mit drei Kilo siebenhundert Gramm, das mich wegen seiner schweren, farbigen Bildtafeln und dem gewichtigen Vorwort von General Henri Guisan hundertneunzig Antiquariatsfranken gekostet hat und mit dem ich leider nie etwas Sinnvolles anzufangen wusste. Nur zweihundert Gramm weniger zeigt meine Küchenwage (die ich ausschließlich zum Bücherwägen verwende) beim sechsten und letzten Band des Geographischen Lexikons der Schweiz an, das immerhin tausenddreihundert doppelspaltige Seiten umfasst und mir noch eines Tages von Nutzen sein könnte. Wie immer bei solchen Universalwerken hat das Gewicht vom ersten zum letzten Band um fast eineinhalb Kilo zugenommen (innerhalb von nicht mehr als acht Jahren, wenn ich richtig gezählt habe). –
In diesem Stil wollte ich fortfahren und dann auch auf die Kunstbände, die Ausstellungskataloge, die Historisch-kritischen Werkausgaben und schließlich auf Arno Schmidts Dreikilo-Opus Abend mit Goldrand zu sprechen kommen, das vielleicht sogar der Auslöser meiner ganzen Gewichtshuberei war.
Aber das hier ist nur ein Tagebuch, das sich kurz halten soll. Überhaupt bin ich froh, überhaupt ein ernsthaftes Thema gefunden zu haben, das ich vielleicht einmal in einer Glosse systematischer anpacken muss.
Mittwoch, 6. Januar 2016
Punkto Kunstbücher: Das neueste (2700 Gramm, zum Neujahr aus Berlin eingeflogen) gilt Elvira Bach (Wienand Verlag 2016). Selbstporträts in hundert-und-weiß-nicht-wie-viel Varianten. Großformatig abgebildet als eine einzige expressionistische Sinnlichkeitsorgie. Rundungen, mit festem Pinselstrich umfasst, damit sie nicht überquellen und nicht, aus der Bildfläche heraustretend, den eingeschüchterten Betrachter überwältigen. Die Mutter-Kind-Bilder: in die Arme betten – um den Hals hängen – untern Arm packen - auf den Schoß, an die Brust pressen : : ein Danaer-Geschenk in die Weihnachtskrippe.
Donnerstag, 7. Januar 2016
Vorsatz (00:40h, dokumentarisch): Morgen will ich wieder mal ein Porträt vom Basler Roche-Tower machen, den ich tagtäglich vor Augen habe, so dass ich ihn gar nicht mehr wahrnehme. Morgen fotografiere ich den Roche-Turm weg! Versprochen!
Begeistert von meinem Vorsatz habe ich das Monumentum schon in heutiger Nacht (01:43:13) fotografiert: klassisch-schwarzbraun-sec (ohne Mond und Sterne, dafür mit den roten Lichtern, die die Umrisse als Zielobjekt markieren).
--- und übrigens: Der Turm wechselt von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute (bei "Wetterlage veränderlich" von Sekunde zu Sekunde) Form und Farbe. Ein Monument als Chamäleon. Geht das?
--- doch später in der Nacht,
(genaue Uhrzeit: 03:43:13)
träumte mir, meine Schlafmütze an, dieses Bild:
Freitag, 8. Januar 2016
Tagesthema: Der Strich
«Der Strich – jeder aufs Blatt hingeschriebene Strich – verneint den wichtigen Körper, den fleischigen Körper, den saftigen Körper; der Strich gibt weder zur Haut noch zu den Schleimhäuten Zugang. Was er sagt, ist der Körper, sofern er kratzt, streift oder gar kitzelt; durch den Strich deplaziert sich die Kunst; ihr Brennpunkt ist nicht mehr das Objekt des Begehrens […], sondern das Subjekt dieses Begehrens. […] Der Strich ist eine sichtbare Aktion.»
(Roland Barthes zum Strich, wie er leibt und lebt)
Samstag, 9. Januar 2016
Arno Schmidt: Abend mit Goldrand, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 1975
Faksimile-Ausgabe des Typoskripts, 216 Seiten
Umfang: 32 x 43 cm
Das Buch braucht ein eigenes Pult, damit man es wie einen Atlas aufschlagen und aufgeschlagen liegen lassen kann. Solche Bücher darf man nicht schließen, bevor man sie, Kontinent nach Kontinent, durchschritten hat.
Unvorstellbar, das Typoskript nach den Regeln des Buchdrucks zu setzen, den Typoskriptcharakter mit Drucktypen nachzubilden – und trotzdem hat man's gemacht.
Der Kartonschuber mit dem Buch stand (mir geschenkt von wem?) in einer Kammerecke, neben dem Weltatlas und weiteren großformatigen Kartons, jahrelang übersehen, vergessen. Doch vor zwei Tagen, auf der Suche nach schweren (kiloschweren) Büchern, stieß ich darauf – und nun liegt es auf dem Pulttisch, ausgebreitet, raumgreifend, und will nicht mehr runter. Seine Anklage (verantwortungslose Vernachlässigung!) sitzt. Es gibt keine Entschuldigung: Es hätte nicht passieren dürfen. Sowas lässt man nicht stehn. So was klappt man auf und nicht mehr zu. Alles andere, fast alles – brave, tadellose Erzählereien – aufgehäuft auf dem Pult, kann weg, ab in die Ecke. Jetzt ist die «Verschreibkunst» dran!
Montag, 11. Januar 2016
Arno Schmidts «Verschreibkunst» – die beste Medizin gegen missverstandene Linguistic and Political Correctness!